Tötungs- und Zerstörungsverbot – differenzierende Auslegung des Begriffs der Absichtlichkeit im Anwendungsbereich von Habitat- und Vogelschutzrichtlinie

Die Generalanwältin Juliane Kokott hat in den am 10. September veröffentlichten Schlussanträgen im Vorabentscheidungsverfahren zu den verbundenen Rechtssachen C-473/19 und C-474/19 potentiell richtungsweisende Rechtsansichten zu Habitat- und Vogelschutzrichtlinie vertreten. Dem Verfahren liegen die Beschwerden zweier schwedischer Naturschutzvereine gegen die Entscheidung der Provinzverwaltungsbehörde Västra Götaland zugrunde. Mit dieser wurde die Genehmigung zur Rodung eines Waldgebiets erteilt, in dem verschiedene Vogelarten sowie der Moorfrosch ihren Lebensraum haben. Zudem wurde festgestellt, dass die genannten Arten das Gebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Fortpflanzung nutzen.  

 

Zunächst hat sich der Gerichtshof mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Arten vom Schutzbereich des Art 5 der Vogelschutzrichtlinie (RL 2009/147/EG) umfasst sind. Insbesondere ist klarzustellen, ob sich der Schutz ausschließlich auf besonders geschützte Arten – die in Anhang 1 genannt werden – beschränkt. Hier kommt die Generalanwältin zu dem klaren Ergebnis, dass es mit Art 5 unvereinbar ist, bestimmte Arten vom Schutz auszunehmen. Die Vogelschutzrichtlinie ist dahingehend auszulegen, dass sämtliche heimische wildlebende Vogelarten entsprechend den Vorgaben des Art 5 zu schützen sind. Eine Einschränkung auf besonders geschützte Arten im Anwendungsbereich des Art 5 kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil Art 4 spezielle Schutzmaßnahmen für diese – in Anhang 1 genannten – Arten vorsieht. Eine solche Differenzierung wäre jedoch nicht geboten, wenn sich ohnehin sämtliche Maßnahmen ausschließlich auf besonders geschützte Arten beziehen.

Zum in der Habitatrichtlinie (RL 92/43/EWG) normierten Verbot der Beschädigung oder Vernichtung von Fortpflanzungsstätten von Tieren gemäß Art 12 Buchstabe d führte die Generalanwältin aus, dass dieses unabhängig davon anzuwenden ist, ob ein günstiger oder ungünstiger Erhaltungszustand einer Population vorliegt und ob dieser Beeinträchtigt wird.

Abschließend hat der Gerichtshof die Frage zu klären, wie die Begriffe „absichtliches Töten/Stören/Zerstören“ in Art 5 Buchst a bis d der Vogelschutzrichtlinie und in Art 12 Abs 1 Buchst a bis c der Habitatrichtlinie auszulegen sind. Nach Ansicht der Generalanwältin ist eine einheitliche Interpretation nicht möglich, weshalb zwischen dem Töten bzw Zerstören einerseits und der Störung andererseits zu differenzieren ist. Darüber hinaus sind auch die Vogelschutzrichtlinie und die Habitatrichtlinie getrennt zu untersuchen. Zum Verbot des Tötens und Zerstörens nach Art 12 der Habitatrichtlinie führt die Generalanwältin aus, dass dieses Verbot nicht voraussetzt, dass sich die fragliche Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand auswirkt. Auch ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art schließt die Anwendung des Verbots nicht aus. Der Begriff der Absicht ist in diesem Kontext dahingehend zu verstehen, dass auch das bewusste in Kauf nehmen darunter zu subsumieren ist. Zu einem anderen Ergebnis gelangt Kokott in Bezug auf das in der Vogelschutzrichtlinie normierte Tötungs- und Zerstörungsverbot und begründet das damit, dass im Gegensatz zur Habitatrichtlinie nicht nur bestimmte – besonders schutzwürdige – Arten, sondern alle heimischen Vogelarten vom Schutzbereich umfasst sind. Der Begriff der Absichtlichkeit der Vogelschutzrichtlinie müsse daher – entgegen der Auffassung der Kommission – anders als jener der Habitatrichtlinie ausgelegt werden. Der von der Generalanwältin dargestellte Lösungsvorschlag sieht vor, dass wenn die Beeinträchtigung von Vögeln nicht bezweckt, sondern nur in Kauf genommen wird, die in Art 5 normierten Verbote nur soweit gelten als dies zur Erhaltung des in Art 2 vorgesehenen Erhaltungszustands notwendig ist.

Zum Störungsverbot führt die Generalanwältin aus, dass nach Art 5 der Vogelschutzrichtlinie Störungen zu untersagen sind, die sich erheblich auf das Ziel auswirken, die Population der Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder auf ein solches zu bringen. Nach Art 12 der Habitatrichtlinie sind nur jene Handlungen verboten, die in besonderer Weise geeignet sind, den Erhaltungszustand der geschützten Art zu beeinträchtigen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Generalanwältin insbesondere hinsichtlich der Auslegung des Tötungs- und Zerstörungsverbots nach der Vogelschutzrichtlinie einen realistischen und praxisnahen Ansatz vertritt. Ob ihr Lösungsvorschlag, wonach das Verbot bei bloßem Inkaufnehmen der Beeinträchtigung nur eingeschränkt besteht, vom Gerichtshof übernommen wird, bleibt abzuwarten.

(Schlussanträge 10.09.2020, C-473/19 und C-474/19)

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