Luftfahrtunternehmen haben ein subjektives Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen den Dienstleister für Flugverkehrsdienste

Der EuGH legte am 2.6.2022 die Verordnung 550/2004 über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum („Flugsicherungsdienste-Verordnung“), insbesondere Art 8 der Verordnung, dahingehend aus, dass er Luftraumnutzern, wie zum Beispiel Luftfahrtunternehmen, ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor den nationalen Gerichten gegen den Dienstleister für Flugverkehrsdienste verleiht, um behauptete Verstöße gerichtlich überprüfen zu lassen.

 

Im Wege der Vorabentscheidung rief ein belgisches Gericht den EuGH an. Dem belgischen Gericht lag ein Rechtsmittel des belgischen Dienstleisters für Flugverkehrsdienste, Skeyes, gegen seinen Beschluss vor. Das Gericht hatte nämlich dem Antrag äußerster Dringlichkeit (ein Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung), der vom Luftfahrtunternehmen Ryanair eingebracht worden war, mit Beschluss stattgegeben. Der Antrag zielte darauf ab, Skeyes vorzuschreiben, einen regulären Luftverkehr zu gewährleisten. Bei Nichtbefolgung sah der Beschluss ein Zwangsgeld vor. Skeyes erhob das Rechtsmittel dagegen mit der Begründung, es unterliege als öffentlich-rechtliches Unternehmen nicht der Zuständigkeit eines ordentlichen Gerichts. Ryanair habe außerdem kein subjektives Recht auf eine derartige Antragstellung.

Das Gericht rief den EuGH an erstens zur Beantwortung der Frage, inwiefern Luftraumnutzern wie Ryanair ein Rechtsbehelf gegen Maßnahmen von Dienstleistern für Flugverkehrsdienste wie Skeyes zusteht. Mit seiner zweiten Frage wollte das vorlegende Gericht wissen, wie der fünfte Erwägungsgrund der Flugsicherungsdienste-Verordnung sowie Art 58 Abs 1 AEUV und Art 16 Charta der Grundrechte auszulegen sind, nämlich ob Wettbewerbsregeln im eigentlichen Sinne oder auch alle sonstigen Regeln, die sich mittelbar auf den Wettbewerb auswirken, im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse ausgeschlossen werden.

Skeyes wurde vom Königreich Belgien gemäß Art 8 der Verordnung Nr 550/2004 als alleiniger Dienstleister für Flugverkehrsdienste für den belgischen Luftraum benannt. Seine Aufgabe besteht darin, die Sicherheit des Luftverkehrs im belgischen Luftraum zu gewährleisten. In diesem Rahmen ist Skeyes berechtigt, sogenannte „Zero-rate“-Maßnahmen zu ergreifen, nach denen in bestimmten Gebieten des belgischen Luftraums weder Start, Landung noch Durchflug von Flugzeugen zugelassen sind. Skeyes verfügt über ein Ermessen, den belgischen Luftraum zu sperren. Aufgrund von Streiks der Fluglotsen und von Personalmangel sperrte Skeyes mehrmals den belgischen Luftraum in einem Zeitrahmen von vier Monaten, wogegen Ryanair einen Rechtsbehelf erhob.

Richtungsweisend bestätigte der EuGH die Zulässigkeit der Erhebung eines Rechtsbehelfs durch Ryanair gegen Maßnahmen von Skeyes. Einen Rechtsbehelf sehe zwar Art 8 der Flugsicherungsdienste-Verordnung nicht ausdrücklich vor, allerdings ist er aus dem Kontext der Verordnung wie auch aus dem Ziel der Verordnung zu interpretieren. Der Kontext und die Ziele der Verordnung ergeben, dass die Dienste des Dienstleisters für Flugverkehrsdienste auch solche Dienste umfassen, die für die wirtschaftliche Tätigkeit der Luftraumnutzer erforderlich sind und in deren Interesse erbracht werden. Art 16 der EU-Grundrechtscharta normiert die unternehmerische Freiheit und schützt die Ausübung der Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit (vgl. C-798/18, C-799/18). Daraus folgt, dass Luftraumnutzer gem Art 8 der Flugsicherungsdienste-Verordnung in Verbindung mit Art 2 Abs 4 der Verordnung Nr 549/2004 zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums („Rahmenverordnung“) Inhaber bestimmter Rechte sind, die durch Entscheidungen des Dienstleisters für Flugverkehrsdienste verletzt werden können.

Da Art 47 Abs 1 der EU-Grundrechtecharta bestimmt, dass jede Person das Recht hat, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Verletzung von Rechten, die durch die Union festgelegt wurden, zu erheben, haben die Mitgliedsstaaten iSd Art 19 Abs 1 EUV auch die spiegelbildliche Pflicht, einen derartigen Rechtsbehelf zu schaffen (C-245/19, C-246/19). Es muss sich dabei nicht um neue Rechtsbehelfe handeln. Den Mitgliedstaaten steht es auch frei zu bestimmen, ob ein Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Zivilgerichtsbarkeit oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder beider fällt. Im Sinne des Effektivitätsgrundsatzes darf die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehene Recht nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden. Ein durch Unionsrecht eingeräumtes Ermessen einer Verwaltungsbehörde oder eines autonomen öffentlichen Unternehmens darf jedenfalls nicht dazu führen, dass das Gericht seine Zuständigkeit verliert (vgl. C-579/19).

Der EuGH beantwortete die zweite Frage dahingehend, dass die Flugsicherungsdienste-Verordnung die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften des AEUV im Lichte ihres fünften Erwägungsgrundes ausschließe, da Flugverkehrsdienste als hoheitliche Befugnisse ausgeübt werden und somit keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen. Allerdings werde die Anwendung sonstiger Vorschriften des AEUV und der EU-Grundrechtecharta hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs und der unternehmerischen Freiheit durch den fünften Erwägungsgrund nicht ausgeschlossen.

Der EuGH stellte klar, dass der freie Dienstleistungsverkehr gem Art 58 Abs 1 AEUV auch für Flugverkehrsdienste gelte. Auch die Anwendung des Rechts auf unternehmerische Freiheit gem Art 16 EU-Grundrechtecharta werde nicht ausgeschlossen.

In das Recht auf unternehmerische Freiheit gem Art 16 EU-Grundrechtecharta kann unter bestimmten Voraussetzungen eingegriffen werden. Einschränkungen sind zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und den von der Union anerkannten Zielsetzungen dienen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Die Einschränkungen müssen den Wesensgehalt der Freiheiten und Rechte achten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (vgl. C-686/18, C-223/19).

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob die Voraussetzungen für einen zulässigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit erfüllt sind. Das Gericht hat allerdings dabei zu beachten, dass das Ziel der Flugsicherheit das Kernziel der Flugsicherungsdienste-Verordnung ist und dass das Sicherheitsbedürfnis schwerer als die Rechte und Freiheiten der Luftraumnutzern wiegt (C-190/16).

(EuGH 02.06.2022, Rs C-353/20, Skeyes)

 

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