Verordnungsprüfung im Verwaltungsweg. „Solange-Entscheidung“ des VwGH zur Jagd auf Fischotter

Der VwGH hat am 13.06.2023 erkannt, dass ein Antrag der Umweltorganisationen auf Verordnungsprüfung bei der erlassenden Behörde von dieser inhaltlich zu prüfen ist. Das leitet der VwGH aus der Aarhus-Konvention und GRC ab. Nicht nur das Erkenntnis an sich, sondern auch die weitergehenden rechtlichen Fragen sind äußerst spannend.

 Die Causa, die Gegenstand des Erkenntnisses war, betraf die von der NÖ Landesregierung erlassene Fischotter-Verordnung, welche unter gewissen Umständen das Fangen und Töten von Fischottern – eine nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) geschützte Tierart – erlaubte. Zwei anerkannte Umweltorganisationen beantragten bei der NÖ Landesregierung die Überprüfung und Aufhebung dieser Verordnung. Die NÖ Landesregierung wies den Antrag im Wesentlichen mit der Begründung zurück bzw ab, der VfGH habe ein ausschließliches Verordnungsprüfungsmonopol. Das LVwG bestätigte diese Entscheidung. Der VwGH kam zu einem gegenteiligen Ergebnis.

Der VwGH wies auf frühere Entscheidungen hin, wonach trotz Rechtstypenzwang Konstellationen auftreten können, in denen die Verwaltung – unter bestimmten unionsrechtlichen Voraussetzungen – zur Erlassung einer Verordnung verpflichtet sei. In solchen Fällen habe der VwGH bereits in der Vergangenheit ein Antragsrecht von Parteien bejaht (VwGH vom 19.02.2018, Ra 2015/07/0074 mwN). Eine Zurückweisung des Antrags auf Aufhebung stelle eine Verweigerung der Sachentscheidung und somit eine Rechtsverletzung dar.

Der VwGH vertrat dabei folgende Argumentationslinie:

  • Die NÖ Fischotter-Verordnung stellt eine Umsetzung des Unionsumweltrechtes (Artenschutzrecht nach der FFH-RL) dar.
  • Die auf die Judikatur des EuGH gestützte Rechtsprechung des VwGH leitet aus der Aarhus-Konvention und GRC ab, dass Umweltorganisationen ein Recht auf Teilnahme am behördlichen Verfahren zusteht, soweit der Schutz von Normen des Unionsumweltrechtes auf dem Spiel steht (vgl etwa VwGH vom 20.12.2019, Ro 2018/10/0010). Außerdem hat der VwGH anerkannten Umweltorganisationen bereits ein Antragsrecht auf Verordnungserlassung zum Zweck von umweltbezogenen Normen des Unionsrechts zugesprochen (VwGH vom 19.02.2018, Ra 2015/07/0074).
  • Der VfGH erkenne in seiner bisherigen Rechtsprechung Umweltorganisationen keine Parteistellung im Verfahren nach Art 139 B-VG und damit keine Antragslegitimation zu (VfGH vom 14.12.2016, V134/2015 sowie V 87/2014 zu Recht kritisch Weber in Ennöckl/Niederhuber, Umweltrecht, Jahrbuch 2017, 300 ff).

Der VwGH sah sich aufgrund dieser Rsp des VfGH in der Folge gezwungen, anerkannten Umweltorganisationen ein Recht auf Einleitung eines Verordnungsprüfungsverfahrens bei der verordnungserlassenden Behörde zuzusprechen. Solange der VfGH den Umweltorganisationen im Verfahren nach Art 139 B-VG kein Antragsrecht zugesteht, müssen aufgrund unionsumweltrechtlicher Vorgaben Verordnungsprüfungen im Verwaltungsweg eingeleitet werden können.

Der VwGH hat sich in seiner Entscheidung nicht im Detail geäußert, wie dieses „Verordnungsprüfungseinleitungsrecht“ ausgestaltet ist – offen bleibt daher, ob Umweltorganisationen ein Antrags- oder eher ein Anregungsrecht zusteht.

Insofern stellt sich die Frage, wie ein weiterer Verfahrensweg der behördlichen Verordnungsprüfung aussehen könnte. Dabei bestehen uE primär zwei alternative Entscheidungsmöglichkeiten: die Behörde entspricht dem Begehren auf Abänderung der Verordnung (im Folgenden V) oder sie lehnt die Abänderung begründet ab.

  • Die Behörde entspricht dem Antrag/der Anregung der anerkannten Umweltorganisation und hebt die V auf.

Grundsätzlich können V entweder auf Grundlage eines Erkenntnisses des VfGH gem Art 139 B-VG, durch einen actus contrarius der verordnungserlassenden Behörde, oder bei Selbstverwaltungskörpern durch AufhebungsV der Aufsichtsbehörde gem Art 119a Abs 6 B-VG aufgehoben werden. Den Regelfall stellt das Tätigwerden der verordnungserlassenden Behörde selbst dar. Der verordnungserlassenden Behörde steht es grundsätzlich jederzeit frei, die erlassene V zu ändern oder aufzuheben. Die Aufhebung kann entweder ausdrücklich (formelle Derogation) oder implizit durch Erlassung einer denselben Gegenstand regelnden späteren V (materielle Derogation, vgl etwa VfSlg 15583/1999) erfolgen.

Die verordnungserlassende Behörde trägt die Verantwortung für die in ihre Kompetenz fallenden V. Dass eine V potentiell im Widerspruch zu Unionsumweltrecht steht, wird uE als wichtiger Grund anzusehen sein, die V zu evaluieren. Droht eine V gesetzeswidrig zu werden, so ist sie von Amts wegen abzuändern oder aufzuheben (Raschauer Allgemeines Verwaltungsrecht⁶ Rz 663 ff, 800 ff).

Das vom VwGH zugestandene Recht der anerkannten Umweltorganisationen auf Einleitung eines V-Prüfungsverfahrens bei der erlassenden Behörde steht in diesem Sinne somit im Einklang mit der Zuständigkeit zur Aufhebung und der allgemeinen Pflicht zur „Reparatur“ rechtswidrigen Staatshandelns.

  • Die Behörde stellt mit einem Rechtsakt fest, dass die von ihr erlassene V nicht aufzuheben ist.

Diese Variante führt zu mehreren rechtlichen Fragestellungen. Wenn der zu erlassende Rechtsakt als V zu qualifizieren wäre, änderte sich nicht viel an der Ausgangssituation und am mangelnden Rechtschutz, solange der VfGH Umweltorganisationen kein Individualantragsrecht anerkennt. In konsequenter Fortführung des VwGH-Erkenntnisses ist daher folgende Frage aufgetreten, ob ein derartiger Rechtsakt nicht einen Bescheid darstellt bzw darstellen muss.

 Das Begriffsmerkmal des Bescheids als „individuelle“ Norm wird von der hL und Judikatur als zentrales Abgrenzungsmerkmal zur V gesehen. Während sich eine V an die „Allgemeinheit überhaupt oder an bestimmte Gruppen der Bevölkerung, die nicht individuell, sondern nach Gattungsmerkmalen bezeichnet sind“ richtet (vgl etwa VfSlg 17.087/2003), stellt ein Bescheid eine „Erledigung gegenüber individuell bestimmten Personen in einer der Rechtskraft fähigen Weise“ dar (VfSlg 13642/1993).

Im konkreten Fall erledigt der Rechtsakt der Behörde die Verwaltungsangelegenheit und richtet sich an die anerkannten Umweltorganisationen, die das V-Prüfungsverfahren eingeleitet hat. Insofern liegt uE ein individuell an sie gerichteter Bescheid vor. Gesteht man den anerkannten Umweltorganisationen ein Recht auf Einleitung eines V-Prüfungsverfahrens zu, so hat uE auch ein Anspruch auf Erledigung in Bescheidform, im Falle einer Abweisung, einherzugehen. Die von der Aarhus-Konvention geforderte Beteiligung samt Zugang zu Gerichten der betroffenen Öffentlichkeit einerseits und der durch die GRC gebotene effektive Rechtschutz müssen uE dazu führen, dass die Entscheidung der Behörde, die V inhaltlich unangetastet zu lassen, bekämpfbar ist. Der Fall der inhaltlichen Abweisung ist folglich mit dem dem Erkenntnis zugrunde liegenden Fall der formellen Zurückweisung gleichzusetzen. Die Geltendmachung von durch Unionsrecht verliehenen Rechten darf nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (Effektivitätsgrundsatz).

Der Instanzenzug führt bei dieser Variante zum zuständigen VwG, welches ausschließlich über die Rechtmäßigkeit des verfahrensrechtlichen Bescheides entscheiden und niemals die V aufheben oder abändern darf. Auch der VwGH kann nur über die Rechtmäßigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung erkennen und die V selbst inhaltlich nicht prüfen. VwG und VwGH könnten aber einen Antrag auf V-Prüfung an den VfGH gem Art 139 Abs 1 Z 1 B-VG stellen.

  • Die Rolle des VfGH

 Wie dargestellt, können die mit der Sache befassten Gerichte amtswegig ein
V-Prüfungsverfahren beim VfGH einleiten. Eine Umweltorganisation kann dies anhand der geltenden Rechtslage als Verfahrenspartei des gerichtlichen Verfahrens aber bloß anregen. Daher ist die Frage zu stellen, ob anerkannten Umweltorganisationen aus unionsrechtlichen Gründen ein (direkter) Zugang zum VfGH zu gewähren ist.

Der VfGH hat bisher in den Rechtssachen V134/2015 sowie V 87/2014 ausgesprochen, dass anerkannte Umweltorganisationen V nicht nach Art 139 Abs 1 Z 3 B-VG anfechten können mit der Begründung, sie wären nicht „in subjektiven Rechten unmittelbar betroffen“. Der VfGH hat insofern die Schutznormtheorie angewendet und das Vorliegen subjektiv-öffentlicher Rechte der Umweltorganisationen verneint. In der Lehre wurde in diesem Zusammenhang diskutiert, die Schutznormtheorie werde zwar vom VfGH und vom VwGH angewendet, sei aber nicht im österreichischen Recht positivrechtlich verankert. Das unmittelbar anwendbare Unionsrecht genieße Anwendungsvorrang, was auch dazu führen sollte, dass eine im nationalen Recht zur Anwendung kommende Theorie (hier die Schutznormtheorie) durch Unionsrecht verdrängt werden müsste (T. Weber in Ennöckl/Niederhuber, Umweltrecht, Jahrbuch 2017, 307 ff). Der EuGH hat nämlich den Umweltorganisationen sehr wohl ein subjektives öffentliches Recht zuerkannt (EuGH 8. 3. 2011, Rs C-240/09 (VLK) - "Slowakischer Braunbär I").

Es wäre denkbar, dass der VfGH in Abkehr zu seiner bisherigen Rechtsprechung seine Rechtsansicht mit jener des VwGH harmonisiert und den anerkannten Umweltorganisationen ein Anfechtungsrecht nach Art 139 Abs 1 Z 3 B-VG zuerkennt. Diesfalls kann aufgrund des besprochenen VwGH-Judikats uE aber nicht mehr der direkte Weg (im Rahmen eines Indivdualantrags) bestritten werden, sondern ist der Umweg nunmehr möglich und auch zumutbar. Zunächst wird uE daher ein V-Prüfungsverfahren bei der Behörde einzuleiten sein.

Behält der VfGH seine bisherige Rechtsansicht und gewährt er den anerkannten Umweltorganisationen keinen Individualantrag auf V-Prüfung, dann bleibt ihnen jedoch lediglich die vom VwGH im Fischotter-Erkenntnis festgestellte Möglichkeit ein behördliches V-Prüfungsverfahren einzuleiten, ohne das Ergebnis dieses Verfahrens – so die V abgeändert wird – beim VfGH anfechten zu können.

Fazit

 Das Grundprinzip der Rechtstaatlichkeit verlangt Klarheit über die Kontrolle der Verwaltung und über die Rechtschutzeinrichtungen. Das Unionsumweltrecht verlangt effektiven Rechtschutz. Der VfGH hat in seinem Erkenntnis VfSlg 12420/1990 ausgesprochen, dass Probleme, die nur „mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust zum Lösen von Denksport-Aufgaben“ den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht gerecht werden. Die dargelegte Causa zeigt Rechtschutzlücken in der Umsetzung des Unionsumweltrechtes auf. Der VwGH vermisst die Aufgabenwahrnehmung durch den VfGH und übernimmt infolgedessen seine eigene Verantwortung. Es bleibt mit Spannung zu erwarten, welche Folgen das Fischotter-Erkenntnis in der österreichischen Rechtsordnung noch haben wird.

 

VwGH vom 13. Juni 2023, Ra 2021/10/0162, 0163

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