Zwei Verfahren vor dem EuGH zur absichtlicher Störung von Vögel und CEF-Maßnahmen

Schlussanträge GA Kokott vom 18.9.2025, C-131/24, Virus I

Am 18. September 2025 hat die Generalanwältin Kokott in einer Sache betreffend den Bau einer Nationalstraße in Niederösterreich ihre Schlussanträge gestellt, C-131/24, Virus I. Ausgangspunkt war eine Genehmigung der niederösterreichischen Landesregierung aus dem Jahr 2019 für ein Straßenbauprojekt in einem Gebiet, in dem unter anderem der streng geschützte Mittelspecht vorkommt. Um den Eingriff durch das Straßenbauvorhaben zu mildern, sah die Genehmigung CEF-Maßnahmen wie Bauzeitbeschränkungen außerhalb sensibler Brutzeiten und die Verbesserung von 6,6 Hektar Altbaumbestand als Ersatzlebensraum vor. Umweltorganisationen, darunter der Verein VIRUS, hielten diese Maßnahmen für unzureichend. Das Bundesverwaltungsgericht Wien legte dem EuGH schließlich Fragen vor, die auf die Reichweite des Vogelschutzes zielten: Liegt eine verbotene Störung schon dann vor, wenn einzelne Individuen beeinträchtigt werden – auch wenn Ausgleichsmaßnahmen die Bestände insgesamt sichern? Und reicht eine sachverständige Prognose zur Wirksamkeit der Maßnahmen aus, oder muss es eine gesicherte wissenschaftliche Evidenz geben?

 

EuGH vom 1.8.2025, C‑784/23, Voore Mets

Der EuGH hatte sich in seiner Entscheidung vom 1.8.2025, C‑784/23, Voore Mets, mit der Frage zu befassen, ob und unter welchen Voraussetzungen Holzschläge während der Brut- und Aufzuchtzeit wildlebender Vögel mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Anlass war ein Verfahren aus Estland, in dem Forstunternehmen Fällungen durchführten, bei denen entweder sämtliche oder nur ausgewählte Bäume einer Parzelle entnommen werden. Das estnische Umweltamt untersagte diese Arbeiten für die Dauer der Brutzeit. Die Unternehmen sahen darin eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit und ihres Eigentumsrechts, da ihre Holzschläge nicht auf die Tötung oder Störung von Vögeln gerichtet gewesen seien.

 

Zur artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung:

Vogelschutzrichtlinie

Rechtlich dreht sich in beiden Fällen alles um Art 5 der Vogelschutzrichtlinie. Während lit a und b (Tötung von Vögeln und Zerstörung von Nestern oder Eiern) absolute Verbote enthalten, ist lit d der Vogelschutzrichtlinie differenzierter. Absichtliche Störungen sind nur verboten, sofern sie die Ziele der Richtlinie erheblich beeinträchtigen, also die Population einer Art gefährden. Störungen sind zwar erfasst, aber bei der Bewertung sind auch Ausgleichsmaßnahmen (CEF-Maßnahmen) zu berücksichtigen, wenn sie wirksam sind und im engen räumlichen Zusammenhang stehen. Entscheidend ist nicht das Schicksal jedes einzelnen Individuums, sondern die Sicherung eines ausreichenden Bestands. Es ist keine absolute wissenschaftliche Gewissheit gefordert, sondern eine fundierte fachliche Einschätzung, die auf den besten verfügbaren Daten und Forschungsergebnissen beruht. Tötung und Nest- oder Eierzerstörung sind immer verboten, bei Störungen einzelner Exemplare ist eine populationsbezogene Abwägung möglich. Daher löst nicht jede Störung den Verbotstatbestand aus.

FFH-Richtlinie

Die rechtlichen Überlegungen zur absichtlichen Störung nach der Vogelschutzrichtlinie kann man aber nicht 1:1 auf die FFH-RL umlegen. Art 12 FFH-RL sieht für den Verbotstatbestand des Störens nämlich vor, dass jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeit verboten ist. Aus der Rechtsprechung des EuGH kann somit nicht abgeleitet werden, dass CEF-Maßnahmen das Auslösen der Verbotstatbestände gem Art 12 FFH-RL verhindern.

Hier ist aber die österreichische Rechtsprechung des VwGH zu beachten. Der VwGH hat in seiner Entscheidung vom 18.12.2012, 2011/07/0190, entschieden, dass dann, wenn die ökologische Funktion der vom Eingriff betroffenen Fortpflanzungs- und Ruhestätten im räumlichen Zusammenhang weiterhin erfüllt wird, der Verbotstatbestand nicht verwirklicht sein kann. Dies hat der VwGH in seiner Entscheidung vom 15.10.2020, Ro 2019/04/0021, Rz 512, bekräftigt: Sind für ein Individuum mehrere derartige Stätten vorhanden, die weiterhin zur Verfügung stehen, wird mit einer allfälligen Zerstörung einer dieser Stätten deren Funktion nicht vernichtet, wenn die Funktion von anderen (bereits vorhandenen oder zu schaffenden) Stätten wahrgenommen wird. CEF-Maßnahmen vermeiden daher den Anwendungsbereich des Art 12 FFH-RL, wenn die Eingriffe durch andere, mit dem Vorhaben unmittelbar verbundenen Ersatz- oder Ausgleichsmaßnahmen kompensiert werden und der verpönte Effekt auf die Verbreitung und den Lebensraum der betroffenen Art nicht eintreten. Sodann ist keine artenschutzrechtliche Genehmigung erforderlich.

Schlussanträge GA Kokott vom 18.9.2025, C-131/24, Virus I

EuGH vom 1.8.2025, C‑784/23, Voore Mets

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